Mit 19 begann ich ein klassisches Kompositionsstudium. Schnell merkte ich, dass mein Hauptfachlehrer (Ü 50) seine männlich gelesenen Studierenden professionell und auf Augenhöhe behandelte, während weiblich gelesene Studierende grundsätzlich mit „mein Schatz“ angesprochen wurden und ständig von ihm ungefragt berührt, umarmt, auf die Wange oder in den Nacken geküsst, oder am Rücken massiert wurden, manchmal im Einzelunterricht, manchmal vor anderen Menschen im Wartebereich der Hochschule oder bei Klassenveranstaltungen. Ich ließ das über mich ergehen, schämte und ekelte mich zwar jedesmal, dachte aber, wenn das hier vor den Augen der halben Hochschule geschieht, dann wird es wohl seine Richtigkeit haben. Im Einzelunterricht war er einerseits sehr dominant/streng, ließ keinen Raum für meine eigenen Ideen, andererseits unangenehm kumpelhaft, wollte alles über mein Privatleben wissen. Nach den Semesterferien beklagte er sich, dass ich mich im Gegensatz zu Studentin XY ja nie gemeldet hätte und er gar nichts von mir wisse, worüber er sehr enttäuscht sei. Er sagte Sprüche wie „Wenn du ein bisschen älter wärst, würde ich dich sofort heiraten“. Ich suchte Solidarität bei mehreren Frauen aus der Musikszene, die ihn auch kannten. Sie sagten zu mir, dass ich das falsch verstehen würde, dass er das gar nicht so meinen würde, dass er ein ganz Lieber sei, woraufhin ich begann, den Fehler bei mir zu suchen und mich noch mehr schämte.
Jahrelang (auch nachdem ich das Studium bei ihm längst abgebrochen hatte) versuchte er regelmäßig mich zu überreden, zu ihm zum Abendessen zu kommen. Wenn ich ausweichend antwortete, reagierte er beleidigt, gekränkt.
Wenn ich an die Zeit zurückdenke, spüre ich Scham, Wut und Hilflosigkeit und möchte das alles im nächsten Moment wieder komplett verdrängen.